Präventiv-Apothekerin Fanny Patzschke erklärt, warum klinische Studien meist nicht das halten, was wir uns von ihnen erhoffen.

Klinische Studien: Lesen, Auswerten, Verstehen

„Schlank durch Schokolade! Moringa heilt Krebs! Rotwein beugt Herzinfarkt vor!“

Diese reißerischen Aussagen haben alle eines gemeinsam: Sie wurden durch klinische Studien belegt. Kaum zu glauben, oder? Natürlich sind fundierte Analysen wichtig für den wissenschaftlichen Fortschritt. Bereiche wie Medizin, Pharmazie, Ernährung, Kosmetik oder Fitness wären ohne klinische Studien auf verlorenem Posten. Dennoch stehen wir oft vor einem Dilemma. Die Anzahl an hochwertigen wissenschaftlichen Analysen ist nämlich sehr überschaubar. Viele Auffassungen leiten sich aus Beobachtungsstudien oder Einzelfallanwendungen ab. Eine klinische Studie korrekt zu interpretieren, kann sich als echte Herausforderung entpuppen. Doch Hilfe naht. Die nachfolgenden Tipps zeigen dir, wie du klinische Studien lesen, verstehen und auswerten kannst.

Was sind klinische Studien?

Hierbei handelt es sich um systematische, wissenschaftliche Erhebungen. Mit ihrer Hilfe werden medizinische Behandlungen, Medikamente oder neuartige Verfahren auf Sicherheit und Wirksamkeit überprüft. Somit bilden sie eine wichtige Basis für die Erarbeitung fundierter Leitlinien oder Gesetze. Ohne klinische Studien wären Fortschritte in der Medizin und Pharmazie undenkbar.

Klinische Studien: Die Phasen

Jede klinische Studie durchläuft mehrere Phasen. Lass uns das Ganze am Beispiel eines neuen Arzneistoffs durchexerzieren, der auf den Markt kommen soll. Hier werden Studien durchgeführt, um dessen Wirksamkeit und Sicherheit zu gewährleisten. Dieser Prozess ist kein leichtes Unterfangen und kann sich über Jahre oder gar Jahrzehnte erstrecken.

Studien-Phase 1: Dosisfindung

Die Sicherheit des neuen Medikamentes wird an einer kleinen Gruppe gesunder Freiwilliger oder auch Patienten getestet. Im Fachjargon nennen wir die Teilnehmenden „Probanden“. Wichtige Ziele hierbei: die richtige Dosierung und mögliche Nebenwirkungen ermitteln.

Studien-Phase 2: Dosisoptimierung

Hier wird das Medikament an einer größeren Gruppe von Patienten getestet – also Menschen, die auch tatsächlich Symptome aufweisen. Ziel ist es die Sicherheit und Wirksamkeit weiter zu überprüfen.

Studien-Phase 3: Zulassung

Diese Phase umfasst groß angelegte Tests an Tausenden von Patienten. Sie dient dazu die Wirksamkeit zu bestätigen und das neue Präparat mit bereits etablierten Medikamenten zu vergleichen. Außerdem werden auch weiter Nebenwirkungen überwacht und registriert.

Studien-Phase 4: Sicherheit

Sogar nach der Markteinführung sind die klinischen Studien nicht beendet. Das Medikamente wird nach wie vor im Auge behalten. So lassen sich langfristige Effekte und ggf. seltene Nebenwirkungen erfassen.

Klinische Studien lesen und verstehen

Das Verständnis klinischer Studien kann herausfordernd sein – besonders für Laien. Hier sind einige wichtige Punkte, die du beim Lesen und Verstehen beachten solltest:

1. Auftraggeber und Sponsoren von klinischen Studien

Wer hat die Studie finanziert? Welche Lobby steckt dahinter? Die Finanzierung kann oft erheblichen Einfluss auf die Ergebnisse nehmen. Pharmaunternehmen und andere Interessengruppen könnten ein finanzielles Interesse daran haben, bestimmte Resultate zu erzielen. Hinterfrage deshalb kritisch, wer hinter der Studie steht und welche Interessen möglicherweise verfolgt werden.

2. Welches Studiendesign liegt vor?

Das Studiendesign ist ein weiterer kritischer Aspekt. Für klinische Studien existiert ein sogenannter „Goldstandard“. In der Pharmazie und anderen wissenschaftlichen Disziplinen sprechen wir von einer “randomisierten, standardisierten Doppelblindstudie“. Sie ist stets in die Zukunft gerichtet – also prospektiv. Die Crux hierbei: Das Ganze ist extrem kostspielig und ethisch nicht immer vertretbar. Beispiel: HIV-Patienten im Endstadium nehmen an einer Studie für ein neues Medikament teil, was ggf. Linderung oder Heilung verspricht. Darf ihnen dabei ein Standard-Präparat verabreicht werden, was längst nicht mehr anschlägt oder gar einen Placebo? Dennoch liefert dieses Design die zuverlässigsten Ergebnisse und minimiert Bias (Verzerrung). Doch was genau verbirgt sich hinter dem Goldstandard? Die Begriffe mögen kompliziert klingen, sind aber schnell erklärt.

2.1 Randomisierung: Strukturgleichheit in klinischen Studien

Die Auswahl sowie Verteilung der Teilnehmenden in verschiedene Versuchsgruppen erfolgt zufällig. Die Auftraggeber der Studie dürfen darauf keinen Einfluss nehmen, um die Ergebnisse nicht zu ihrem Vorteil zu verfälschen.

2.2. Standardisierung: Behandlungsgleichheit in klinischen Studien

Es werden immer mindestens zwei verschiedene Probandengruppen gebildet. Dabei erhält eine Gruppe das zu testende Produkt (Arzneimittel, Lebensmittel, Nahrungsergänzungsmittel, Kosmetikartikel etc.). Die andere hingegen bekommt einen Placebo oder ein bisher auf den Markt befindliches vergleichbares Präparat.

2.3 Verblindung: Beobachtungsgleichheit in klinischen Studien

Niemand weiß, wer welcher Gruppe zugeordnet ist – weder die Teilnehmenden selbst, noch die Auftraggeber. Auch die an der Auswertung beteiligten Personen haben keinen Einblick, da eine unabhängige Institution die Verblindung durchgeführt. In den weiteren Studienverlauf ist diese nicht mehr involviert.

3. Probandenzahl: Wichtiges Qualitätskriterium für klinische Studien

Die Anzahl der Probanden in einer Studie beeinflusst die Aussagekraft der Ergebnisse. Kleine Studiengruppen können zufällige Ergebnisse liefern und sind weniger repräsentativ. Je größer die Probandenzahl, desto verlässlicher sind die Resultate. Überprüfe daher immer, wieviele Teilnehmer in die Untersuchung eingeschlossen waren. Oder noch wichtiger: gab es überhaupt welche? Nicht immer handelt es sich um Humanstudien. Viele Analysen finden anhand von Zellkulturlinien oder Tierexperimenten statt. Dementsprechend gering ist deren Aussagekraft. Darüber hinaus sind Tierstudien ethisch nicht vertretbar und führen häufig zu falschen Rückschlüssen. Von 10.000 potentiellen neuen Wirkstoffen, die erfolgreich an Tieren getestet wurden, finden lediglich 5-10 Stück klinische Anwendung. Sobald sie allerdings die Phase 1 der Humanstudien durchlaufen, folgt oftmals die Enttäuschung. Nicht selten tauchen massive unerwünschte Nebenwirkungen auf oder das Präparat entfaltet gar keinen Effekt. Auch im Bereich Ernährung existieren zahlreiche tierexperimentelle Untersuchungen oder klinische Studien mit einer sehr geringen Probandenzahl. Dementsprechend sind sie wenig aussagekräftig.

4. Korrelation vs. Kausalität: Fehlinterpretation von klinischen Studien

Dir ist sicher bereits aufgefallen, dass zu fast jeder Untersuchung eine Gegenanalyse existiert. Einmal gilt beispielsweise Low Carb als gesund, ein anderes Mal wird High Carb als das Nonplusultra für ein langes Leben propagiert. Dabei basieren diese Aussagen oft auf Korrelationsstudien. Nur, weil zwei Dinge gleichzeitig auftreten, bedeutet das nicht, dass eines das andere verursacht. Du kannst daher nicht auf eine Kausalität – also eine ursächliche Abhängigkeit – schließen.

Klinische Studien auswerten

Die Auswertung klinischer Studien erfordert ein kritisches Auge. Sie verlangt dir die Fähigkeit ab, verschiedene Aspekte der Forschung zu analysieren. Hier sind einige Tipps:

1. Liefern klinische Studien schlüssige Ergebnisse?

Sind die Resultate der Studie klar und stimmig? Was sagt dein gesunder Menschenverstand? Erscheint es dir logisch, was behauptet wird? Unscharfe oder vage Ergebnisse können auf methodische Mängel oder Bias hinweisen.

2. Peer-Review und Publikation klinischer Studien

Überprüfe, ob die Studie in einer angesehenen Fachzeitschrift veröffentlicht wurde. Wie äußern sich anerkannte, unabhängige! Fachexperten dazu? Das Verfahren nennen wir Peer-Review. Es ist ein wichtiges Qualitätsmerkmal in der wissenschaftlichen Forschung. Was genau verbirgt sich dahinter? Gutachter, die auf dem gleichen Fachgebiet forschen, bewerten die vorliegende wissenschaftliche Arbeit bzw. das Projekt. Dies dient der Qualitätssicherung klinischer Studien. Dennoch ist auch das kein Garant, dass du eine makellose Studie vor dir liegen hast.

3. Sind langfristige Studiendaten vorhanden?

Liefert die Studie auch Langzeitdaten? Kurzfristig angelegte Untersuchungen können möglicherweise nicht alle Effekte registrieren. Langzeitstudien bieten daher umfassendere und zuverlässigere Daten.

Metaanalysen: Ein umfassender Überblick

Metaanalysen kombinieren die Resultate mehrerer Einzelstudien zu einem bestimmten Thema. So bieten sie einen umfassenden Überblick. Sie sind weniger anfällig für Bias und liefern robustere Ergebnisse. Problem hierbei: Jede Kette ist nur so stark wie das schwächste Glied. Soll heißen: Die Aussagekraft einer Metaanalyse ist stark von der Qualität der einbezogenen Einzelstudien abhängig. Weisen einzelne Studien methodische Mängel auf, wirkt sich das dementsprechend auf die gesamte Metaanalyse negativ aus.

Klinische Studien und Social Media

Heutzutage spielen die sozialen Medien eine immer größere Rolle in unserem Leben. Gleiches gilt auch für der Verbreitung wissenschaftlicher Ergebnisse. Mittlerweile scheint jeder gut geschulte Influencer, der etwas auf sich hält, mindestens eine klinische Studie zu zitieren. So verleihen sie ihren Aussagen mehr Glaubwürdigkeit. Auch das Bewerben von Produkten gegen Provision wird dadurch vereinfacht. Das kann sich jedoch als problematisch erweisen. Warum? Weil viele dieser Influencer keine wissenschaftliche Ausbildung genossen haben. Die Studien werden möglicherweise falsch interpretiert oder gar aus dem Zusammenhang gerissen. Deshalb gilt: Bleib kritisch. Verlasse dich nicht ausschließlich auf Informationen aus sozialen Medien.

Abschließende Tipps zum Lesen und Verstehen klinischer Studien

  • Hinterfrage die Quelle: Überprüfe wer dahinter steckt, welche Intention verfolgt wird und wer die Studie finanziert hat.
  • Achte auf das Studiendesign: Im Idealfall werden klinische Studien nach dem Goldstandard durchgeführt.
  • Unterscheide zwischen Korrelation und Kausalität: Lass dich nicht von Zufällen täuschen. Sie beweisen keine kausalen Zusammenhänge.
  • Nutze Metaanalysen: Sie bieten dir einen umfassenden Überblick und sind oft weniger anfällig für Bias.

Fazit: Unabhängige klinische Studien sind selten

  • Klinische Studien sind wichtig für den wissenschaftlichen Fortschritt. Ihr Verständnis erfordert jedoch kritisches Hinterfragen und eine sorgfältige Analyse.
  • Unabhängige klinische Studien sind in der Regel Mangelware. Behalte im Hinterkopf, dass hinter jeder Analyse Interessen und Geldgeber stecken.
  • Der Goldstandard für klinische Studien lautet: Randomisiert, doppelblind, placebokontrolliert. Dieses Design liefert die zuverlässigsten Ergebnisse.
  • Beachte die hier vorgestellten Prinzipien. So kannst du besser klinische Studien lesen, verstehen und auswerten.
  • Hinterfrage auch Social Media kritisch. Influencer können klinische Studien oft falsch interpretieren oder aus dem Zusammenhang reißen.
  • Entwickle dein eigenes Körpergefühl. Sammle persönliche Erfahrungen. Dadurch findest du heraus, was dir wirklich gut tut. Denk immer daran: Die beste Studie bist du selbst.

Ausgestattet mit diesem Wissen, wirst du klinische Studien besser verstehen und smartere Entscheidungen für deine Gesundheit treffen.

Autorin: Fanny Patzschke

Apothekerin, staatlich geprüfte Ernährungsberaterin, lizenzierte Fitnesstrainerin, zertifizierte Yogalehrerin, Vegan Raw Chef

2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Liebe Fanny!
    Vielen Dank für deinen ausführlichen Artikel. Ich glaube schon lange nicht mehr alles, was Studien sagen. Und über die Problematik der vielen verschiedenen Ergebnisse bzw. Tatsachenverfälschungen mache ich mir schon lange Gedanken. Dein Artikel hat genau das angesprochen, was mich schon so lange beschäftigt. Er hat es auf den Punkt gebracht.
    LG, Nicki

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